Zum Anhören

Sechs Stücke aus: Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2013-16)
nach Zeitungscollagen von Herta Müller für Kammerensemble und Sprechstimme
Modern Art Ensemble und Berthold Tuercke (Rezitation), Konzerthaus Berlin 2013


Die Sprache der Zeitungscollagen von Herta Müller sprüht vor Musikalität.
Sprachklang, Rhythmik, Atmosphäre in einem surreal-absurden, oft mondbesessenen Weltkonstrukt sind ähnlich wie in Pierrot Lunaire von Albert Giraud, was Schoenberg einst zu seinem Zyklus inspiriert hatte. Und doch sind Herta Müllers Texte aus einer anderen Welt, ihre schrägen Sprachbilder sind Chiffren einer bedrohten Existenz, abgründiger Galgenhumor eines Denkens, dem es an den Kragen geht, besessen von Fluchtgedanken, und sei es in die Anonymität geklebter Texte.

Spurengesang (2004)
für Alt-Saxophon und Klavier
Frank Lunte und Tatjana Blome (CD EDA Edition Abseits)


SPURENGESANG ist eine Musik der seelischen und geistigen Abgründe, die sich dem auftun, der danach sucht, sich seiner selbst zu vergewissern. Die Musik kreist um den Anfang von Ernst Blochs Gedankenzyklus Spuren, so wie hier ein Denkgeflecht kreisend entfaltet wird:

ZUVOR
Wie nun ? Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.

ZU WENIG
Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muß man heraus.

SCHLAFEN
An uns selbst sind wir noch leer. So schlafen wir leicht ein, wenn die äußeren Reize fehlen. Weiche Kissen, Dunkel, Stille lassen uns einschlafen, der Leib verdunkelt sich. Liegt man nachts wach, so ist das gar kein Wachsein, sondern zähes, verzehrendes Schleichen an Ort uns Stelle. Man merkt dann, wie ungemütlich es mit nichts als mit sich selber ist.

LANG GEZOGEN
Warten macht gleichfalls öde. Aber es macht auch trunken. Wer lange auf die Tür starrt, durch die er eine, einen erwartet, kann berauscht werden. Wie von eintönigem Singen, das zieht und zieht. Dunkel, wohin es zieht; wahrscheinlich in nichts Gutes. ...

IMMER DARIN
Wir können nicht lange allein sein. Man langt damit nicht aus, in der allzu eignen Bude ist es nicht geheuer. ...


Blochs karger und doch sirenenhafter Erzählton, Notate wie aus einem kafkaschen Befindlichkeitstagebuch, treibt ins Bodenlose, indem er Gesagtes unsagt und Ungesagtes sagt. So wird die Null-Linie menschlicher Selbstgewißheit, universeller Ausgangspunkt des Denkens und Fühlens, als eine Dunkelkammer gezeichnet, darin all das auflauert, das Geist und Seele umfängt, wenn beide, um ihrer Erkenntnis willen, wechselseitig ineinander dringen.
Dieser gesamte Anfang unterliegt wie eine Art Subtext der Musik. Sie ist in jedem ihrer Momente wie eine Art Klangwerdung all dessen, was zwischen den Zeilen schwingt.
Die unterstrichenen Stellen werden in der Komposition zitiert, und zwar spricht jeweils einer der Musiker gleichzeitig die rückwärtige Reihenfolge der Worte, so daß die Textverständlichkeit verstellt erscheint, zu jener ungeheuren/nicht-geheuren Verschränktheit, mit der die angestoßenen Gedanken zueinander in die Schwebe geraten.

Eclipse (2000)
für Klaviertrio
Jutta Rübenacker (Violine), Christoph Marcks (Violincello), Bernardo Martinez (Klavier), Marktkirche Hannover 2001


Ein ständiges Agieren und Reagieren und Sich-Versammeln in Situationen und Klangflecken: „vers une musique informelle“ – so könnte Adornos Traum von rezeptiven und zugleich impulsiven musikalischen Gemengelagen geklungen haben …

Wind-Speak (1986)
für Bläserquintett und Sprecher nach einer Passage aus „Malone Dies“ von Samuel Beckett
Bartholomews Ensemble und LeRoy Lehr (Sprecher) unter Leitung des Komponisten, New York 1987


Bei dem auf englisch rezitierten Text Becketts handelt es sich um die Schlußpassage seines Romans Malone Dies, die aus Erinnerungsschwaden Malones besteht; die darin auftauchenden Personen „Macmann“ und „Lemuel“ sind Stereotypen Beckettscher ‚Individuen‘, wobei sie in Macmann alle zusammenzukommen scheinen, denn die Vorsilbe „Mac“ bedeutet ‚Sohn des‘, so daß also „Macmann“ mit ‚Menschensohn‘ übersetzt werden könnte.
Das Stück beginnt mit einer längeren instrumentalen Einleitung und folgt ansonsten in seiner formalen Anlage der des Textes, dessen Pausen musikalisch auskomponiert sind.
Der heterogene, oft ungehobelte Klang eines Bläserquintetts schien mir geeignet, die abgründige Atmosphäre des Textes einzufangen.

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